#reisen
Veröffentlicht: 06.08.2013
Autor: Hansi Stöckl

Hochtourenwoche im Berner Oberland

Ein Reisebericht von Barbara Esser

 

Frueher Aufbruch auf der Spaghettirunde Hochtour im Monterosa Massiv

Geführte Hochtouren im Berner Oberland mit den bekannten Viertausendern im Gebiet.

Beste Verhältnisse und perfektes Wetter am schönen Gipfel des Finsteraarhorns. Das Berner Oberland ist ganz Sicher ein Geheimtipp für alle Hochtourenbegeisterten.

Bergerlebnisbericht über die Besteigung des Finsteraarhorns
 

Top of Berner Oberland

Der höchste Berg des Berner Oberlandes ist der Finsteraarhorn mit einer Höhe von 4274 Metern. Wen dieser freistehende Gipfel mit seiner grenzenlosen Aussicht reizt, muss im Sommer mindestens drei Tage einplanen, denn die weithin hervorstechende Haifischflosse ist nicht so leicht zu erreichen, wie das zu wesentlich mehr Ruhm gelangte Dreigestirn Eiger, Mönch und Jungfrau. Wer also den „Top of Berner Oberland" besteigen möchte, kann die Tour zum Beispiel von dem höchst gelegenen Bahnhof der Schweiz aus angehen. Der liegt auf 3454 Metern auf dem Jungfraujoch und wird als „Top of Europe" vermarktet.

Wolfgang und ich sind heute Morgen mit unserem Bergführer Hansi auf dem Langzeitparkplatz in Grindelwald - Grund verabredet. Von hier aus startet die Zahnradbahn, die sich durch den in den Fels gesprengten Tunnel im Innern von Eiger und Mönch hocharbeitet, bis sie nach eineinhalb Stunden Fahrt im Berghaus Jungfraujoch ihre Endstation erreicht. Über Flachbildschirme nehmen wir Teil an Ueli Stecks Rekord-Durchsteigung der legendären Eiger Nordwand in nur zwei Stunden und achtundvierzig Minuten. Wir erleben sie durch den Zeitraffer in noch kürzerer Zeit, was unser eigenes Leistungsniveau bereits vor Beginn der Tour nochmals in eine neue Relation setzt. Inzwischen haben wir zwei Stopps eingelegt, die uns ermöglich, durch große Fenster in die Tiefe der Eiger-Nordwand und auf die Gletscherbrüche mit ihren Seracs hinabzublicken. Ein Seil neben dem Notausstieg erinnert an die Tragödie, die in dem Film „Nordwand" bis zu ihrem traurigen Ende verfilmt wurde.
Wir drei stehen inmitten der Besuchertrauben, die artig den Fähnchen ihrer Reiseleiter folgen und staunen über das japanisch-indisch angehauchte Disneyland, das es mitten in den hohen Schweizer Bergen zu einer stark besuchten Touristenattraktion gebracht hat. Der Touristenstrom folgt den blauen Schildern der Rundtour, während der Ausgang Richtung Mönchsjochhütte durch den gerade menschenleeren Stollen führt und uns in die gleißende Gletscherwelt entlässt. Die Pistenraupe hat eine breite Trasse über den Gletscher gelegt. Die Höhensonne sticht bei erbarmungsloser Windstille.

Kurz vor der Mönchsjochhütte zweigt die Stelle ab, an der es über Fels und Firn zum Gipfel des Mönchs geht. Ab hier handelt es sich nicht mehr um einen Gletscherspaziergang, sondern um eine Hochgebirgstour, die entsprechende Ausrüstung und Kenntnisse erfordern. Die Sonne steht schon fast in ihrem Zenit. Zu der fortgeschrittenen Stunde kommen uns mehr Seilschaften entgegen, als dass welche aufsteigen. Am Einstieg sieht das Ziel so nah aus. Das täuscht, wegen der gewaltigen Dimensionen, die sich um uns ausdehnen. Dreieinhalb Stunden steigen wir unermüdlich an. Der Gipfel gehört uns alleine, was bei den sommerlichen Temperaturen und der atemberaubenden Sicht nicht zu erklären ist. Wie selten das vorkommt, mag man daran messen, dass unser Bergführer, der grundsätzlich Wiederholungen ausspart, mehrfach betont, dass er das auf dem Mönch noch nicht erlebt hat. Im Sonnentop auf 4107 Metern! Da ließe sich „Top of(f)..." ganz neu auslegen!

Wir blicken auf die Sphinx, eine Aussichtsplattform, die weit unter uns auf einem Felssporn über der Jungfrau-Bahnstation thront. Die Menschen sind zu kleinen Punkten geschrumpft, die Weite des Aletschgletschers verliert sich in einem Rechtsbogen hinter der weißen Gebirgswelt. Zur Rechten winkt der Eiger zum Greifen nah herüber und zur Linken steht die Jungfrau in hellem Schneeglanz. Ganz tief unter uns liegt die Kleine Scheidegg in sommerlichem Almgrün eingebettet.

Die weißen Wolkentürme bauschen sich wie ein Rahmen ringsum die Berge am Horizont. Wir steigen wieder ab, bevor sie sich in bedrohliche Ungeheuer verwandeln und erreichen knapp bevor das Unwetter losgeht die Hütte. Es kracht direkt über uns. Der Blitz hat eingeschlagen. Das bekomme ich nicht mehr mit, denn ein Sonnenstich hat mich außer Gefecht gesetzt.

Die anhaltenden heißen Luftströme aus Afrika haben die Nullgradgrenze auf 4400 Meter steigen lassen. Wir kämpfen auf dieser Tour gegen das Wetter in Form von Hitzerekordwerten, die den Schnee schon in den Morgenstunden aufweichen lassen und die tragenden Flächen in instabile Tritte verwandeln. Unser Ziel heute ist die Finsteraarhornhütte. Sie liegt am Fuße des Finsteraarhorns mitten im Herzen der Berner Alpen und verlangt, egal von welcher Seite man sie anläuft, eine extra Tagesetappe. Unsere Route führt über das große Fiescherhorn, das wir seit der Mönchsjochhütte direkt vor uns sehen.

Um vier Uhr starten wir in die sternenklare Vollmondnacht. Je weiter die Hütte hinter uns liegt, desto besser wird der Schnee und der monotone Rhythmus des Steigens in der frischen Luft beruhigt die immer noch starken Kopfschmerzen. Der Morgen kündigt sich mit seinen kühlen Pastellfarben an und verwandelt den Himmel immer mehr in ein faszinierendes Farbenspiel, das alleine die ganzen Mühen so reich entlohnt.

Die Sonne zaubert bereits silberne Lichtkanten auf die Gratwechten, bis wir sie erreichen und in der Gipfelwand von dem satten Licht umfangen werden. Der Tag ist endgültig angebrochen. Nach einer kurzen Pause arbeiten wir uns die letzte steile Firnflanke hoch bis zum Gipfel des Großen Fiescherhorns (4049 Meter). Die andere Seilschaft, die mit uns aufgebrochen ist, ist hinter dem Felsgrat in den Abstieg entschwunden und eine weitere lässt sich auf dem Fieschergletscher ausmachen. Die Ruhe und die Weite wirken tief. Nur der Blick zur Haifischflosse lässt den Fluss der entspannten Emotionen abrupt stocken. Der Finsteraarhorn zeigt sich von seiner schmalen Seite, die mir so aus der Nähe betrachtet noch finsterer erscheint, als aus der Ferne.

Obwohl die Berge um acht Uhr morgens noch sanfte Konturen in den blauen Himmel zeichnen, fühlt sich der Tag schon fortgeschritten an. Die Sonne entfaltet unerbittlich ihre Kraft und lässt uns keine Chance, den Wettlauf gegen den weichen Schnee für uns zu entscheiden. Also streichen wir den Abstecher zum kleinen Fiescherhorn und genießen den Gipfelausblick hier etwas ausgiebiger, bis Hansi zum Aufbruch mahnt.

Sobald der Felsgrat ab geklettert ist, stehen wir auf dem hier beginnenden Walliser Fieschergletscher im brüchigen Schnee. Mühsam ist, dass man nicht bei jedem Schritt einbricht, sondern dass der Schnee ein paar wenige Schritte trägt, bevor der Schuh wieder einen neuen Krater zurücklässt, mal mehr, mal weniger tief. Bei den Verhältnissen kommen wir schlecht voran und können uns jetzt schon ausrechnen, wie lange wir noch brauchen werden. Es liegen noch fünfhundert Meter Abstieg und einige Kilometer Strecke vor uns. Durch die Erwärmung wird die Spaltenzone noch gefährlicher. Wir stapfen, so schnell es eben geht, am langen Seil abwärts. Weiter unten sinken wir nicht mehr so tief ein und überhaupt wird der Schnee gleichmäßig sulzig, was uns wieder ein schnelleres Tempo ermöglicht. Die Steigeisen brauchen wir nicht mehr. Gegen die Hitze hilft nur noch Vermummen.

Inzwischen lege ich mir zwischen Kopftuch und Kappe immer wieder den kühlenden Gletscherschnee, der sich in kurzer Zeit in Rinnsalen mit dem Schweiß verbindet und von der Nase tropft. Um halb eins erreichen wir die Finsteraarhornhütte, die uns endlich vor der Sonne schützt.

Es ist eine moderne Hütte mit einem erstaunlichen Komfort in dieser abgeschiedenen Landschaft. Bedauerlich ist einzig, dass wir die wunderschöne Aussichtsterrasse nur noch zum Trocknen der Schuhe und der Ausrüstung nutzen wollen. Von hier aus ist der Gipfel des Finsteraarhorns gut zu erkennen. Die Normalroute auf den Finsteraarhorn beginnt direkt an der Hütte (3048 Meter). Es geht kontinuierlich bergauf, größtenteils über die Schneeflanke mit ihren Spalten. Eine abwärts verlaufende Felsrippe trennt die weißen Flächen in zwei Teile und bietet sich beim Queren als Frühstücksplatz an. Weiter im Firn bis zum Hugisattel auf 4088 Metern. Die letzten zweihundert Höhenmeter führen über den Felsgrat in leichter Kletterei (I/II), sozusagen entlang der Kante der Haifischflosse bis zum höchsten Punkt auf 4274 Metern, den ein Gipfelkreuz markiert.

Die wenigen Tourengeher für den hiesigen Hausberg versammeln sich um halb vier im Frühstücksraum. Um vier Uhr starten wir in die viel zu milde Nacht. Die Fast-noch-Vollmondscheibe leuchtet wie ein überdimensioniertes Flutlicht von hinten auf den felsigen Steig und macht die Stirnlampe fast überflüssig. Das gleichmäßige Steigen stellt sich ein, sobald wir die Felsen hinter uns lassen und uns in dem mondbeschienenen Schnee hocharbeiten. Bis zum Frühstücksplatz begleitet uns ein einmaliges, intensives Naturschauspiel, das das gestrige noch weit in den Schatten stellt. Während sich der Mond auf seiner sich neigenden Laufbahn den Bergspitzen unaufhaltsam nähert, verliert er anfangs noch unmerklich, aber stetig an Intensität. Die Morgenröte auf der anderen Seite ist erst nur ein Hauch, die sich immer weiter über den Horizont rechts und links herum ausdehnt, bis auch der Mond farbenprächtig in diese weichen Farben eingebettet wird. Die Sonne schickt ihre strahlenden Vorboten, die die weißen Bergspitzen in ständig wechselnden Nuancen von blassrosa bis lachsfarben anleuchten. Die Berge schimmern um die Wette, bis die Lichtwellen sich wieder im weißen Strahl vereinen. Bevor der Mond hinter den Bergen abtauchen kann, ist er vom Tageslicht verschluckt.

Der Tag bleibt so wunderschön, wie er begonnen hat, und lässt uns die Tour in vollen Zügen genießen. Am Gipfelkreuz macht sich große Zufriedenheit breit. Die Aussicht ist so bestechend, wie versprochen. Die Gipfelrast ein Genuss. Es bleibt genug Zeit, bis wir uns satt gesehen haben, was an einem Tag wie diesem lange dauert. Wir klettern über den Aufstiegsweg zurück zum Hugisattel und von dort aus kommt uns der inzwischen wieder weich gewordene Schnee sogar zu Gute. In diesem steilen Gelände können wir geradlinig fast bis an die Hütte abwärtssteigen, die wir achteinhalb Stunden nach dem Verlassen wieder erreichen. Heute bleibt noch viel Zeit, die Hütte zu genießen und über den morgigen Tag nachzudenken.

Hansi kennt die Route über den Walliser Fieschergletscher nicht. Gängiger ist die Route über die Grünhornlücke und den Aletschgletscher hinaus nach Fiesch ins Rhonetal oder eine Rundtour über das Grünhorn zurück zum Jungfraujoch. Wir alle wollen gerne diesen seltener begangenen unteren Teil des Fieschergletschers kennenlernen und werden morgen wieder früh starten. Diese lockende Variante hängt jetzt von den Wetteraussichten ab, denn es hat sich heute Nachmittag zugezogen und bei Nebel werden wir den bekannten Weg nehmen müssen.

Es gibt einen krönenden Tourenabschluss über den Fieschergletscher, der sich über eine Länge von fünfzehn Kilometern erstreckt und einige Überraschungen zu bieten hat, zuletzt die Erkenntnis, dass die vom Hüttenwart angekündigte Zeitangabe von fünf bis sechs Stunden nicht zu halten ist. Zweitausend Meter Abstieg liegen vor uns.

Ein eisiges Ungetüm, das sich über mehrere gewaltige Abbruchkanten nach unten schiebt und dessen langer Schwanz sich bis auf 1700 Meter hinabschlängelt, eingezwängt zwischen steil aufragenden Felswänden. Uns ist er wohlgesonnen und doch lässt er uns seine Bedrohlichkeit spüren, indem er uns Kraft abverlangt und zwar von oben bis unten. Es gibt kein Grollen oder Rumoren im eisigen Fluss, sondern Stille. Der Mond hat sich in einen milchigen Schleier gehüllt und hinter uns wabern Nebelschwaden. Die bucklige Oberfläche ist unstetig und kantig. Zwischen den Rillen und Furchen trügt die Eisschicht über den halb erstarrten Rinnsalen und lässt uns immer wieder durchbrechen. Später gluckst und perlt es um uns, bis das Schmelzwasser anschwillt zu rauschenden Bächen, die sich ihren Weg neben und unter dem Eis suchen oder in eine tiefe Gletschermühle stürzen. Der Stein, den Hansi in die Tiefe wirft, lässt uns ahnen, wie tief sich das Wasser in den Bauch hineingewaschen hat.

Wir umgehen den sich aufbäumenden Eispanzer, der an einen Drachenrücken erinnert, über eine Felsenschlucht. Wuchtig und wild haben sich die Eistürme wie Hörner aufgestellt. Lediglich die Spitzen sind zu abgerundeten Kuppen abgeschmolzen. Ein ganzes Heer von Eisfiguren hat sich hier bizarr formiert. Dazwischen klaffen tiefe Risse und Gräben. Eine Spalte reiht sich an die nächste und zerfurcht den ungeheuerlichen Eiskörper. Wir nähern uns ihm wieder, als er durch das gemäßigte Gefälle wieder gebändigt ist. Wir steigen über den Drachenschwanz abwärts; auf dem Eis wieder mit Steigeisen. Die latente Gefahr ist noch nicht gebannt. Friedlich ist das Bild nur, solange der Nebel fernbleibt, solange das Eis trägt und unsere spitzen Krallen hält, solange unser Weg durch das Spaltenlabyrinth nicht in einer Sackgasse endet. Ein schaurig schönes Naturerlebnis.

Der Gletscher ist durch den abgelagerten Schutt dunkel geworden, nur in den Spalten schimmert das Eis noch hell. Die Felswände rücken immer enger zusammen. Am Gletscherrand stehen übergroße Sandplateaus, als ob jemand das Steinmehl mit haushohen Sandkastenformen umgestülpt hätte. Mich erinnert das Landschaftsbild immer mehr an eine Dünenlandschaft, auch die Steine sind hell geworden. Es sind die letzten eindrucksvollen Bilder vor dem Gletschermaul. Abrupt ergießt sich der Fieschergletscher in milchigem Grün in das großzügige Gebirgsbecken und bahnt sich den Weg in die nächste für uns nicht begehbare Schlucht. Inmitten der kleinen Ebene, zwischen den von allen Seiten strömenden Flüssen, legen wir vor dem Abstieg ins Tal eine letzte Rast ein und genießen den Anblick auf die Eismauer hinter uns. Der Zauber ist endgültig gebrochen; der Haifisch erlegt, der Drache bezwungen.

Marbach, 6. August 2013
Barbara Esser

 

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